Hierbei handelt es sich um Auszüge von Aufzeichnungen, die in den Jahren 2000-2010 handschriftlich erstellt wurden.
Weitere Textveröffentlichungen sind in Planung.
"Die großen Ferien 1935 waren für mein Leben eine Zeit von
entscheidender Bedeutung. In diesen Tagen lernte ich Schach
spielen. Der Anlass war der Besuch der beiden jüngeren Söhne
der Familie Heinz aus Pirmasens [...]. Walter und Hans spielten
mit Vater und Gerhard Schach. Der einzige, der es nicht konnte,
war ich.
Es bedurfte keiner großen überredungskünste, Vater dazu zu
bringen, mir die Spielregeln beizubringen. Damit begann ein
neuer Abschnitt in meinem Leben.
Vater und Gerhard erklärten mir die Brettnummern, so dass ich
an Hand von Schachbüchern, Schachzeitungen und Schachecken
in Tageszeitungen Meisterpartien nachspielen konnte, was in
den nächsten Monaten und Jahren meine liebste Freizeitbeschäftigung
gewesen ist. So lernte ich die Namen der berühmten
Meister kennen und erlangte dadurch auch die meisten Schacheröffnungen.
Vater gab mir in den ersten Wochen noch die
Dame, später einen Turm, nach etwa einem halben Jahr nur noch
einen Bauern vor. Ab Sommer 1936 ließ ich mir aber nichts mehr
vorgeben. 1936 war ich aber doch noch etwas schwächer als
Vater. Gerhard und ich waren ungefähr gleich. Im Dezember
1935 machten wir einen Wettkampf auf 30 Partien, den Gerhard
mit 15,5-14,5 gewann. Mit den dreißig Partien imitierten wir
den Wettkampf Aljechin - Euwe 1935. Weil ich nach der 28.
Partie führte und die beiden letzten Partien verlor, war ich recht
untröstlich. Da sprach Vater ein Machtwort. 'Jetzt machen wir
eine Schachpause mit einem kräftigen Spaziergang.' Zu mir
gewendet sagte er: '
Gerade Du brauchst frische Luft.' Es war
schon dunkel, wir marschierten aber trotzdem zunächst am Kanal
entlang nach Pasing und kamen bis nach Gräfeling. Da lernte ich
erstmals den Wert eines Fußmarsches [...] kennen. Als wir
wieder daheim waren, war von der Betrübnis über den 'verlorenen
Wettkampf' keine Spur mehr da."
"Diese abscheuliche Tat [gemeint ist das Attentat des polnischen Juden Herschel Grynszpan, der in der Deutschen Botschaft in Paris Ernst Eduard vom Rath erschoss, weil seine Familie aus Deutschland ausgewiesen wurde.] war für Goebbels aber ein willkommener Vorwand, eine 'spontane Empörung des deutschen Volkes' zu organisieren, die später als 'Reichskristallnacht' in die Geschichte einging. Vater war über die brutalen, abstoßenden Ausschreitungen so entsetzt, dass er ausrief: 'Da schämt man sich, ein Deutscher zu sein.' Er kaufte in diesen Tagen holländische Zeitungen, in denen man ausführliche Berichte über das doppelrundige AVRO-Turnier [lesen konnte]. Aus den holländischen Zeitschriften sind mir noch folgende überschriften in Erinnerung: 'Der antisemitische Terror in Deutschland', ,Barbarische Manieren', 'Ein großer Teil des deutschen Volkes schämt sich tief'. In den nächsten Tagen waren holländische Zeitungen nicht mehr zu bekommen. Erst nach einiger Zeit konnten wir sie wieder kaufen."